Frühe Fremdsprache in der Primarschule nur noch für Kinder, die ausreichend Deutsch können?
Die FDP-Fraktion (Sprecher Titus Meier, Brugg) hat am 2. Juli 2024 eine Motion eingereicht. Darin verlangt sie eine Reduktion der frühen Fremdsprachen zugunsten einer Stärkung der Kompetenzen in Deutsch.
Jetzt liegt die Antwort der Regierung vor. Sie lehnt den Vorstoss ab bzw. wäre bereit, ihn als Postulat zur Prüfung entgegenzunehmen.
Der Regierungsrat anerkenne den Bedarf, Schülerinnen und Schüler der Volksschule mit ungenügenden Deutschkompetenzen gezielt zu fördern, denn gute Deutschkenntnisse sind die Grundlage für das Lernen in allen Fächern und für die Teilhabe an der Gesellschaft, hält er fest. Die Volksschulen seien mit dem zunehmenden Anteil an fremdsprachigen Kindern und Jugendlichen stark gefordert.
"Bereits zahlreiche Angebote und Massnahmen zur Förderung von fremdsprachigen Kindern und Jugendlichen"
In seiner Beantwortung zum (23.192) Postulat Dr. Adrian Schoop, FDP, Turgi, vom 13. Juni 2023 betreffend Massnahmen gegen die negativen Auswirkungen des hohen Fremdsprachenanteils an gewissen Schulen habe er aber aufgezeigt, dass in der Volksschule bereits zahlreiche Angebote und Massnahmen zur Förderung von fremdsprachigen Kindern und Jugendlichen umgesetzt werden:
• Förderung von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) im Rahmen des Ressourcenkontingents des kommunalen Schulträgers
• Einschulungsvorbereitungskurs (EVK) zur Vorbereitung fremdsprachiger, asylsuchender Kinder auf den Übertritt in die Regelschule
• Regionale Integrationskurse (RIK) zur Vorbereitung neu zugezogener, fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler auf den Übertritt in die Regelklasse
• Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen im Bereich DaZ.
Zudem habe der Regierungsrat in seinen Ausführungen zur Entgegennahme des Postulats in Aussicht gestellt, die Auswirkungen des Anteils an Fremdsprachigen auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu analysieren und allfällige zusätzliche Massnahmen zur Förderung von Lernenden mit ungenügenden Deutschkenntnissen zu prüfen.
Mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht in der Volksschule hält der Regierungsrat fest, dass die Bundesverfassung die Kantone verpflichtet, die Ziele der Bildungsstufen zu harmonisieren. Mit dem Lehrplan 21 hätten die deutsch- und mehrsprachigen Kantone diesen Auftrag für die Volksschule umgesetzt.
Der Aargauer Lehrplan Volksschule hat die Lernziele des Lehrplans 21 aufgenommen und entspreche somit der Vorgabe der Verfassung. In den Fremdsprachen Englisch und Französisch sind Ende der 6. und 9. Klasse Grundansprüche ausgewiesen, die von allen Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollen.
"Nicht opportun, von der geltenden nationalen Fremdsprachenkonzeption abzuweichen"
Der Regierungsrat erachtet es daher nicht als opportun, im Aargauer Lehrplan Volksschule grundsätzlich von diesen Lernzielen und somit von der geltenden nationalen Fremdsprachenkonzeption abzuweichen und steht einer Individualisierung des frühen Fremdsprachenlernens für eine beträchtliche Gruppe von Lernenden zugunsten von verstärkter Deutschförderung zurückhaltend gegenüber.
Er zeigt sich jedoch bereit, eingehend zu prüfen, ob und wie eine Reduktion des frühen Fremdsprachenunterrichts für ausgewählte Kinder umgesetzt werden könnte und welche Konsequenzen dies für das System Volksschule und die Kinder nach sich ziehen würde. Dabei sollen insbesondere folgende Punkte im Detail geprüft werden:
• Schulorganisation und Stundenplan bei einer Flexibilisierung des Fremdsprachenunterrichts beziehungsweise einer verstärkten Deutschförderung (parallele Lerngruppen, unterschiedliche Lernniveaus)
• Sprachstandserfassung und Zuteilungskriterien in entsprechende Lerngruppen
• Beurteilung und Zeugnis
• Durchlässigkeit des Fremdsprachenunterrichts für die betroffenen Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Volksschule und Anschluss an die Sekundarstufe II
• Kostenfolgen.
Da die vorliegende (24.213) Motion inhaltliche Nähe zum vom Grossen Rat am 9. Januar 2024 überwiesenen (23.192) Postulat aufweise, werde der Regierungsrat deshalb die Berichterstattung zu beiden Vorstössen zusammenführen, schreibt er weiter. Er weist zudem darauf hin, dass der Prüfauftrag im Rahmen des vom Grossen Rat ebenfalls überwiesenen (23.166) Postulats Daniel Hölzle, Grüne, Zofingen (Sprecher), Colette Basler, SP, Zeihen, Dr. Titus Meier, FDP, Brugg, Kurt Gerhard, SVP, Brittnau, Markus Lang, GLP, Brugg, Jürg Baur, Mitte, Brugg, Uriel Seibert, EVP, Schöftland, vom 16. Mai 2023 betreffend Französisch als Wahlfachpflichtfach an der Realschule einer Verstärkung des Fremdsprachenunterrichts an der Oberstufe, wie in der vorliegenden Motion gefordert, entgegenstehe.
Das (23.166) Postulat lege Massnahmen zur Entlastung von Realschülerinnen und Realschülern im Zusammenhang mit dem Französischunterricht nahe.
Konsequenzen der Umsetzung, insbesondere Auswirkungen auf die Aufgaben- und Finanzplanung
Die Einführung eines individuellen Beginns des Fremdsprachenlernens für Schülerinnen und Schüler mit ungenügenden Deutschkompetenzen zugunsten einer verstärkten Deutschförderung zöge erhebliche Kosten nach sich, da zusätzliche Lerngruppen gebildet und das entsprechende Lehrpersonal ressourciert werden müsste, argumentziert der Regierungsrat.
Mehrkosten pro Jahr voraussichtlich im tiefen zweistelligen Millionenbereich
Die Mehrkosten pro Jahr würden sich voraussichtlich im tiefen zweistelligen Millionenbereich bewegen. Die Flexibilisierung des frühen Fremdsprachenunterrichts würde zudem voraussichtlich einen beträchtlichen Mehraufwand in der Schulorganisation und der Stundenplanung bedingen, heisst es weiter. Weiter wäre für eine grössere Gruppe von Lernenden die Kontinuität und die Anschlussfähigkeit im Fremdsprachenlernen innerhalb ihrer Schule, bei Umzug in eine andere Gemeinde oder einen anderen Kanton sowie beim Übergang in den Fremdsprachenunterricht auf der Sekundarstufe II nicht mehr garantiert.
Darum reichte die FDP-Fraktion ihren Vorstoss ein
In ihrer Motion will die FDP-Fraktion den Regierungsrat beauftragen, dem Grossen Rat die notwendigen gesetzlichen Anpassungen zu unterbreiten oder in eigener Kompetenz vorzunehmen,
• so dass nur diejenigen Kinder, die über ausreichende Kompetenzen in Deutsch verfügen, in der Primarschule frühen Fremdsprachenunterricht besuchen und die anderen Kinder zusätzlichen Deutschunterricht erhalten.
• so dass durch Anpassungen in der Oberstufe die bisherigen Sprachziele weiterhin erreicht werden.
FDP: keine signifikant bessere Fremdsprachenkenntnisse
Begründung: Mit Beschluss vom 19. Juni 2007 stimmte der Grosse Rat dem Verpflichtungskredit zur Einführung von Frühenglisch ab der 3. Primarklasse zu und am 18. September 2018 dem Verpflichtungskredit zur Einführung von Französisch ab der 5. Primarklasse. Damit wurde die nationale Sprachenstrategie im Kanton Aargau umgesetzt. Erfahrungen aus der Schulpraxis und verschiedene Studien belegen laut FDP-Vorstoss, "dass der frühe Fremdsprachenunterricht zu keinen signifikant besseren Fremdsprachenkenntnissen der Schülerinnen und Schüler am Ende der Volksschule beiträgt".
Nebst dem Zeitpunkt, zu dem mit dem Fremdsprachenunterricht in der Volksschule begonnen wird, spieletn weitere Faktoren für einen erfolgreichen Fremdspracherwerb eine Rolle. Damit Schülerinnen und Schüler eine Fremdsprache fundiert erwerben, sind auch Häufigkeit und Qualität der sprachlichen Inputs von enormer Wichtigkeit. Die Wirkung der Umsetzung des frühen Fremdsprachenunterrichts an der Volksschule Aargau sei daher umstritten.
FDP: für viele Kinder ist schon Deutsch eine Herausforderung
Der frühe Fremdsprachenunterricht forciere aber ein anderes Problem: Viele Kinder sind bereits mit dem Erwerb der Grundkompetenzen der deutschen Sprache stark gefordert bzw. überfordert. Das zusätzliche Erlernen von Fremdsprachen in der 3. und 5. Primarschule stelle eine deutliche Hürde dar für den Erwerb der Grundkompetenzen Lesen und Schreiben in Deutsch.
"Erschwert schwachen Schülern den schulischen Erfolg"
Primarschülerinnen und -schüler, die keine fundierten Grundlagen in Deutsch aufweisen, haben damit in weiteren Fächern erhebliche Nachteile, weil sie beispielsweise die Aufgabestellung in Mathematik oder in weiteren Fächern nicht richtig verstehen. Dies sei insbesondere ein Nachteil der schwachen Schülerinnen und Schüler und erschwere ihren weiteren schulischen Erfolg.
"...sonst nimmt der Druck auf gänzliche Abschaffung zu"
Die neusten Ergebnisse der PISA-Studie vom Dezember 2023 zeigten, dass 15-jährige Schülerinnen und Schüler, die zu Hause überwiegend eine andere Sprache sprechen als die Schulsprache, in Mathematik eine statistisch signifikant niedrigere Leistung erreichen als diejenigen, die zu Hause die Schulsprache sprechen. Aus diesem Grund seien Korrekturen im frühen Fremdsprachenunterricht in der Primarschule dringend angezeigt. Andernfalls werde der Druck auf eine gänzliche Abschaffung zunehmen.
Personelle und finanzielle Ressourcen sind knapp und sollten dort eingesetzt werden, wo sie die grösste Wirkung entfalten. Die Korrekturen sind umso wichtiger, als dass über ein Drittel der Kinder im Kanton – in einzelnen Gemeinden gar über die Hälfte – mit einer anderen Erstsprache als Deutsch ins Aargauer Schulsystem eintreten. Dieser Anteil hat sich seit der Einführung der Fremdsprachen auf Primarschulstufe stark erhöht. Gleichzeitig verfügen auch Kinder mit deutscher Muttersprache zunehmend über ungenügende Sprachkenntnisse infolge sprachlicher Vernachlässigung in der frühen Kindheit.
Gerade auf der Primarstufe muss jedoch das Erlernen von Deutsch Priorität haben, weil später alle Fächer darauf aufbauen. Aus diesem Grund sei eine Verschiebung der Einführung von Fremdsprachen zugunsten von mehr Unterricht in Deutsch angezeigt. Damit am Ende der Volksschule jedoch die bestehenden Ziele erreicht werden können, seien auf der Oberstufe mehr Lektionen für Fremdsprachen einzusetzen als bisher.
Gleichzeitig seien neue Formate zu finden, die das Erlernen etwa der zweiten Landessprache begünstigen. Dabei sei beispielsweise an Sprachaufenthalte zu denken, welche die Sinnhaftigkeit für das Erlernen von Französisch verbessern und damit das Sprachenlernen begünstigen. Frühe Fremdsprachen in der Primarschule sollen für jene Kinder weiterhin möglich sein, die über ausreichende Kompetenzen in Deutsch verfügen, schreibt die FDP in ihrer Motion weiter, und abschliessend: "Sie können in der Zeit Fremdsprachen lernen, in der andere ihre Grundkompetenzen in Deutsch erweitern."
Wie es mit dem Vorstoss weitergehen soll, entscheidet demnächst der Grosse Rat.