Marianne Binder will freie Entfaltung aller Kinder ohne Kinderkopftuch - was entschied der Nationalrat?

Der Bundesrat wird beauftragt, einen Bericht zu erstatten, inwiefern, gestützt auf die Bundesverfassung, eine Grundlage geschaffen werden kann, welche allen Kindern an unseren Kindergärten und Schulen die gleichen Rechte und die gleichen Freiheiten garantieren und den Kinderschutz gewährleisten. Das forderte Marianne Binder (Die Mitte/AG) in einem im Dezember 2022 eingereichten Postulat (damals noch als Nationalrätin). In unseren Bildungseinrichtungen müsse eine freie Entfaltung aller Kinder ohne Kinderkopftuch garantiert sein, findet Binder.

Sie begründete das so: Kleidungsstücke, welche Unterordnung und Diskriminierung von muslimischen Mädchen ausdrücken, widersprächen der Bundesverfassung (BV). Mit dem Grundsatz, dass sich religiöses Recht dem staatlichen unterzuordnen hat, soll auch die Rangierung von Artikel 8 gegenüber Artikel 15 der BV geklärt werden. Sich auf die Glaubens-und Gewissensfreiheit zu berufen, um Unterordnung zu rechtfertigen, könne nicht im Sinne der Verfassung sein, so die Postulantin.

Das Kopftuch für muslimische Mädchen hemme deren Entwicklung und Bewegungsfreiheit und widerspreche dem pädagogischen Ziel der Gleichberechtigung und Chancengleichheit, so Buinder weiter: "Es macht Unterordnung und Sexualisierung (sichtbar) evident und schafft mit der irreführenden Argumentation der Religionsfreiheit eine Markierung und Unfreiheit für eine Minderheit von Mädchen, die es tragen."

Schon 2023 antwortete der Bundesrat in ablehnendem Sinne. Er habe sich bereits in seinem Bericht "Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole" vom 9. Juni 2017 mit religiösen Symbolen in der Schule, u.a. auch mit dem Tragen von Kopftüchern, befasst. Er stützte sich dabei auf eine Analyse der Gesetzgebung und der Rechtsprechung im Bund, der politischen Vorstösse in den Kantonen, auf empirische Befunde sowie auf einen internationalen Rechtsvergleich.

Im Bericht habe er dargelegt, so der Bundesrat," dass diesbezüglich kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht". Er habe insbesondere darauf verwiesen, dass die Kompetenz, im Bereich der Religion gesetzgeberisch tätig zu werden, bei den Kantonen liegt. Diese seien zudem für das Schulwesen zuständig. Diese Verteilung der Zuständigkeiten ermögliche es auch, zielgerichtete Antworten auf konkrete Situationen zu finden.

Sollte das Kindeswohl oder die Chancengleichheit eines Kindes gefährdet sein, verfügen die zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden jedenfalls bereits heute über das rechtliche Instrumentarium, das Kind zu schützen und seine Interessen zu wahren, so der Bundesrat weiter. Mit solchen einzelfallgerechten Lösungen liessen sich nach seiner Meinung bessere Ergebnisse erzielen als mit einem nationalen Kopftuchverbot an der Schule.

"Generelles Kopftuchverbot wäre verfassungswidrig"

Ein generelles Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen wäre gemäss der Praxis des Bundesgerichts ausserdem verfassungswidrig. So schützte das Bundesgericht 1997 zwar die Entlassung einer Primarschullehrerin im Kanton Genf, die sich geweigert hatte, ihr Kopftuch während des Unterrichts abzulegen, mit Blick auf die konfessionelle Neutralität der Schule (BGE 123 I 296).

Es erachtete hingegen in einem 2015 entschiedenen St. Galler Fall (BGE 142 I 49) ein allgemeines Verbot für Schülerinnen, an öffentlichen Schulen ein Kopftuch zu tragen, als einen unverhältnismässigen, schweren Eingriff in die Religionsfreiheit nach Artikel 15 BV, dies trotz Vorliegen einer genügenden gesetzlichen Grundlage, so der Bundesrat weiter.

Unter dem Gesichtswinkel der in Betracht fallenden öffentlichen Interessen (u. a. störungsfreier Schulbetrieb, Integrationsfunktion der Schule, staatliche Neutralität in Religionsangelegenheiten, Gleichstellung von Frau und Mann) war es für das Bundesgericht nicht notwendig, den weiteren Zugang zum Unterricht für die Schülerin vom Verzicht auf ein religiöses Symbol abhängig zu machen.

Ein Verbot des Tragens des muslimischen Kopftuchs sei insbesondere "nicht erforderlich, um die für die Wahrung der Chancengleichheit so wichtigen Lerninhalte zu vermitteln oder einen effizienten Schulbetrieb aufrechtzuerhalten". Ein punktuelles Verbot, das sich auf ein überwiegendes öffentliches Interesse stützt, schloss das Bundesgericht hingegen nicht aus. Aus den oben dargelegten Gründen sieht der Bundesrat derzeit keinen Anlass, erneut einen Bericht zu diesem Thema zu verfassen.

Vorrang für Säkularismus und Chancengleichheit vor der Religion

In der Debatte im Nationalrat am 10. Juni doppelte für die inzwischen in den Ständerat gewählte Marianne Binder ihre Nationalratskollegin Jacqueline de Quattro (FDP/VD) nach. Mit diesem Postulat gehe es Marianne Binder darum, die Möglichkeit der Schaffung einer Rechtsgrundlage zu prüfen, um sicherzustellen, dass alle Kinder in unseren Kindergärten und Pflichtschulen die gleichen Rechte und Freiheiten haben, und ihren Schutz sicherzustellen, sagte de Quattro.

Alle Kinder müssen sich in unseren Ausbildungsstätten ungehindert entfalten können, insbesondere ohne im Unterricht einen Schleier tragen zu müssen, so Quattro weiter. Der Säkularismus unserer Schulen und die Chancengleichheit müssten Vorrang vor der Religion haben.

Das Tragen des Schleiers behindere die Integration und Bewegungsfreiheit kleiner Mädchen und hindere sie insbesondere daran, uneingeschränkt am Turn- oder gar Schwimmunterricht teilzunehmen. Dadurch würden sie schnell beiseite geschoben und zu Klassenkameraden gemacht, die nicht mit anderen spielen.

de Quattro: "Uns wird gerne gesagt, dass nur eine kleine Minderheit der kleinen Mädchen betroffen sein würde. Gewiss, aber eine Minderheit, so klein sie auch sein mag, kann in unseren westlichen Gesellschaften, die sich damit rühmen, in Fragen der Emanzipation besonders fortschrittlich zu sein, nicht ignoriert werden."

Wenn das Bundesgericht 2015 tatsächlich festgestellt hat, dass ein allgemeines Verbot problematisch sei, habe es in derselben Rechtsprechung klargestellt, dass es ein spezifisches Verbot aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses nicht ausschliesst. Ein Verbot scheine daher möglich, insbesondere um kleinen Mädchen den Zugang zu Sport- und Schwimmunterricht zu ermöglichen. Diesen Handlungsspielraum soll der Bundesrat in diesem Postulat prüfen, verlangte de Quattro.

Bundesrat: Verbot würde vierfach gegen Verfassung verstossen

Der zuständige Bundesrat Beat Jans beantragte namens des Bundesrats, das Postulat abzulehnen, denn es würde gleich vierfach gegen die Bundesverfassung verstossen. Erstens liege die Kompetenz für Regelungen im Bereich der Religionsausübung bei den Kantonen. Zweitens seien die Kantone auch für das Schulwesen zuständig. Drittens entschied das Bundesgericht in einem Fall aus St. Gallen, dass ein generelles Kopftuchverbot für Schülerinnen in öffentlichen Schulen verfassungswidrig ist.

Das Bundesgericht habe öffentliche Interessen wie einen störungsfreien Schulbetrieb geprüft, die Integrationsfunktion der Schule, die staatliche Neutralität in Religionsfragen und die Gleichstellung von Frau und Mann, und es befand, dass ein Verbot des Kopftuchs bei Schülerinnen zum Schutz dieser Interessen nicht notwendig ist, so Jans.

Bundesrat bleibt dabei: kein Handlungsbedarf

Ein Verbot des muslimischen Kopftuchs im Unterricht sei "nicht erforderlich, um die für die Wahrung der Chancengleichheit so wichtigen Lerninhalte zu vermitteln". Der Bundesrat befasste sich laut Jans viertens schon im Bericht "Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole" mit dem Kopftuch an Schulen (wie schon aus seiner schriftlichen Antwort hervorgegangen ist). Der Bericht kommt zum Schluss, dass kein Handlungsbedarf besteht.

Bei einer Gefährdung des Kindeswohls oder der Chancengleichheit verfügen die kantonalen und kommunalen Behörden über die nötigen Instrumente, um ein Kind zu schützen. Das sei zielführender als ein Kopftuchverbot an Schulen. Er bat deshalb, das Postulat abzulehnen.

Der Nationalrat folgte allerdings der Argumentation von Jacqueline de Quattro bzw. von Marianne Binder und hiess das Postulat (das ja nur einen Bericht verlangt) mit 104 : 77 (bei 10 Enthaltungen) gut.

Lesen Sie ab 12 Uhr auf dieser Plattform, welche Antworten der Bundesrat in der Fragestunde auf Anfragen von Aargauer Nationalrätinnen und Nationalräten schriftlich gegeben hat.