Kaspar Villiger zu Handelskammer: "Es muss ein Ruck durchs Land gehen"

Die Aargauische Industrie- und Handelskammer (AIHK) rief, und alle kamen, ist man angesichts des Grossaufmarschs im Trafo in Baden versucht zu schreiben. Entsprechend erfreut begrüsste AIHK-Präsidentin Marianne Wildi in Anwesenheit des Vorstandes der AIHK die 650 Gäste, ein neuer Rekord.

Kaspar Villiger zu Handelskammer: "Es muss ein Ruck durchs Land gehen"
Alt-Bundesrat Kaspar Villiger hielt eine ausführliche Rede zur Lage der Nation. Bilder: Michael Küng

Unter den Gästen als Hauptredner der frühere Bundesrat Kaspar Villiger, Grossratspräsidentin Mirjam Kosch, Grossratsvizepräsident Markus Gabriel, Ständerätin Marianne Binder, Ständerat Thierry Burkart, Landammann und Redner Markus Dieth, Landstatthalter Dieter Egli und Bildungsdirektor Alex Hürzeler. Dazu die Nationalräte Maya Bally, Martina Bircher, Matthias Samuel Jauslin, Andreas Meier, Staatsschreiberin Joana Filippi, Vertreter von Militär, Justiz, Bildung (darunter FHNW-Direktionspräsident Crispino Bergamaschi), viele Grossräte und natürlich Hunderte Gäste aus der Wirtschaft.

Marianne Wildi ging kurz zurück zum Jahr 1874, dem Gründungsjahr der AIHK., die damals noch ein Verein war. Damals wurde gerade die neue Bundesverfassung mit den Volksrechten (Initiatuv- und Referndumsrecht) gutgeheissen. Es wurde auch eine Telegrafenleitung in die USA erstellt. Kommunikation war damals natürlich so wichtig wie heute.

2110 Mitgliedfirmen, diese stehen für jeden dritten Arbeitsplatz

1906 wurde dann der Aargauische Arbeitgeberverband gegründet, 1976 schlossen sich dieser und der Industrie- und Handelsverein zur heutigen Aargauischen Industrie- und Handelskammer (AIHK) zusammen. Heute zählt diese 2110 Mitgliedunternehmern, die rund jeden dritten Arbeitsplatz im Kanton anbieten.

Marianne Wildi: "Wir haben Menschen mit Innovation".

Offen sein für Neues und Innovatives: "Andere Länder haben Bodenschätze, wir in der Schweiz haben Menschen mit Innovation." Wildi rief zur Zusammenarbeit auf, statt gegeneinander zu arbeiten, um voran zu kommen. Schliesslich hielt sie ein Plädoyer für Altersteilzeit und Bogenkarriere. Wir bräuchten eine zukunftsträchtige Energiepolitik, die Berufsbildung sei sehr wichtig.

Die AIHK bekommt einen Neubau in Aarau. Vor kurzem bekam sie - überraschend schnell - die Baubewilligung. Das neue Haus der Wirtschaft dürfe man voraussichtlich 2026 eröffnen, kündigte Wildi an.

11 neue Vorstandsmitglieder, Suhner und Bertschi Ehrenmitglieder

Die AIHK hat elf neue Vorstandsmitglieder bekommen, nämlich Hans-Jörg Aerni, Jan Arnet, Luca Dalla Torre, Rolf Eicher, Marco Killer, Irina Leutwyler, Philippe Ramseier, Serge Reichlin, Reto Schmid, Christian Verhoeven und Robin Wasser. Und zwei neue Ehrenmitglieder wurden ernannt: der legendäre Otto H. Suhner, der nach über 30 Jahren im Vorstand zurückgetreten ist. Ebenfalls Ehrenmitglied wurde der internationale Aargauer Transportunternehmer Hansjörg Bertschi.

Die Nacht der Aargauer Wirtschaft fand schon zum dritten Mal statt, sagte AIHK-Direktor. Man organisiere uahc imme rwieder Exportforen für den Austausch und die Vernetzung. das nächste ist anfangs Juni. Da gebe es kompetente Auskunft zum ganz neuen Freihandelsabkommen Schweiz-Grossbritannien. Enagiert ist die AIHK auch in der Wirtschaftsbildung von Schülerinnen und Schülern. Man zeigt hier etwa, wie eine Gemeindeverwaltung oder wie der Geldkreislauf funktioniert, so Bechtold. Zum aargauischen Energiegesetz suchte die AIHK mit AGV und Parteien an einem runden Tisch nach Lösungen. Die wurden dann im Grossen Rat aus bürgerlicher Sicht gefunden.

AIHK steht für das Stromgesetz vom Juni ein

Wir stünden vor wichtigen Weichenstellungen, so Bechtold, im Juni etwa über das Stromgesetz. Ein Ja zum Mantelerlass werde nicht reichen, aber es wäre ein Anfang, meinte er. Hingegen lehnt die AIHK die beiden Gesundheitsinitiativen ab, über die im Juni ebenfalls abgestimmt wird.

Man werde mehr arbeiten müssen, so Bechtold weiter. Wie will er das erreichen? Eine Massnahme könne sein, im Betrieb mit einem Auszubildenden einen Plan zu machen, um die Verbundenheit zum Unternehmen zu stärken, und die Fluktuation zu senken. Zudem heisse es flexibel zu sein, etwa wenn eine Mitarbeiterin Mutter wird und ihr Pensum reduzieren will.

Markus Dieth humorvoll: "Dafür, dass der Staatswein aus Wettingen kommt, kann ich nichts".

Dieth: "150 Jahre Verlässlichkeit und Partnerschaft"

Die Grüsse der Kantonsregierung zum Jubiläum überbrachte Landammann Dieth. 150 Jahre AIHK bedeuteten 150 Jahre Verlässlichkeit, Partnerschaft und kontinuierlicher Einsatz für das Wohl unseres wunderschönen Kantons, sagte Dieth. Sie fördere auch den Dialog, ebenso den Austausch über Ideen und Visionen, und lege immer konstruktive Vorschläge auf den Tisch.

Vor 150 Jahren habe man auch den Kulturkampf beenden können, so Dieth im Blick zurück. Der Aargau entwickelte sich dann zu einem erfolgreichen Wirtschaftskanton. Die Unternehmen hätten Wohlstand und Stolz geschaffen, sagte der Landammann weiter. Der AIHK üerreichte er zum Jubiläum 15 (Dieth: "150 Flaschen wären etwa viel gewesen") Flaschen "exquisiten Staatswein".

Kaspar Villiger vor der versammelten Industrie- und Handelskammer.

Kaspar Villiger: "Eine alte Welt liegt in Trümmern"

Schliesslich sprach der frühere FDP-Bundesrat Kaspar Villiger, der einst in Aarau die Kantonsschule besucht hat. Die Schweiz habe seit dem 2. Weltkrieg wohl nie gleichzeitig vor so vielen Herausforderungen gestanden wie jetzt. Seit einigen Jahren schwächle die heutige Weltordnung seit dem Ende der Bipolarität, der russische Angriff auf die Ukraine habe ihr gar den Todesstoss versetzt. Villiger: "Eine alte Welt liegt in Trümmern, eine neue ist nicht in Sicht. Das waren schon immer gefährliche Zeiten."

Es stimme nicht, dass wirtschaftliche Verflechtungen immer Krieg verhindern, so Villiger. Der demokratische Westen werde sich davon verabschieden müssen, seine Werte global durchzusetzen: "Er hat die Kraft dafür schlicht nicht mehr." Autokraten und Unentschiedene hätten die Mehrheit weltweit. Eine Marginalisierung des Demokratieblocks sei nicht auszuschliessen, etwa wenn sich die USA zurückziehen sollten.

Es brauche aber minimale regeln zum Zusammenleben, gegehe es um Pandemien, Immigration oder Rüstung/Abrüstung. Villiger begrüsst es deshalb, dass die Chinesen und die USA immerhin wieder miteinander reden. Protesktionismus sei wieder salonfähig. Statt einem fairen Steuerwettbewerb gebe es zunehmend einen intransparenten Subventions-Dschungelkrieg. Ein signifikanter Rückbau des weltweiten Handels würde aber alle Länder ärmer machen, warnte Villiger.

Sorge bereitet ihm auch die wachsende Überforderung der Uno. Ein Sieg Russlands über die Ukraine hätte auch hier verheerende Folgen. Er würde Putins Hunger nicht stillen, sondern vergrössern. Weltweit würde der Glaube an die Fähigkeitern von EU, USA und Nato beschädigen. Der Ausgang des Konflikts sei von schicksalshafter Bedeutung auch für die Schweiz.

13. Rente: Das Volk hat das Recht, falsch zu entscheiden

Eine Herausforderung in der Schweiz sei der hohe Kostendruck, und wir bräuchten Zuwanderung. Zudem stehe die Schweiz vor schwierigen innenpolitischen Problemen, dazu zähle etwa die wachsende Skepsis im Volk gegenüber der Wirtschaft. Er rief zu einer Revitalisierung unserer Kompromisskultur auf. Auch die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz sei wieder aufzubauen.

Villiger: "Es muss ein Ruck durch die Schweiz gehen".

Der Reformstau betrifft die langfristige Sicherung der Altersvorsorge (Villiger zur 13. Rente: Das Volk hat das Recht, falsch zu entscheiden"). Auch beim EU-Binnenmarkt stehe die Schweiz mit sich selbst imClinch. Dazu komme die Notwendigkeit einer sicheren Energieversorgung. Die Neutralitätspolitik sei im neuen sicherheitspolitischen Umfeld anzupassen.

Polparteien haben sich zu Misstrauensproduzenten entwickelt

Unsere Kultur verändere sich schleichend, die Kompromissbereitschaft sieht er gefährdet: Immer mehr Kompromissresistenz und eine zunehmende Erwartungshaltung. Die Polparteien hätten sich zu eigentlichen Misstrauensproduzenten entwickelt. Er mahnte: Aber alles was der Staat Interessengruppen anbieten kann, "muss irgendjemand bezahlen". Die Schweiz habe als Standort immer noch einen Spitzenrang, Erosionserscheinungen seien aber da. Offensichtlich hielten viele unseren Wohlstand für gottgegeben und selbstverständlich, so Villiger weiter. Wirtschaftsführer hätten eine grosse gesellschaftspolitische Verantwortung.

Volksinitiativen, die in Bern in der Pipeline stecken, würden die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiter verschlechtern, warnte Villiger.

Der frühere Finanzminister lobte die Schuldenbremse und ihre Wirkung. Jetzt stehe der Bund vor grossen Herausforderungen. Beiträge an Prämienverbilligungen oder an die AHV stiegen derzeit schneller als die Wirtschaftskraft. Er warnte angesichts vieler Forderungen vor einer finanziellen Überforderung des Staates.

Villiger: "Das weckte den Durst derjenigen, die noch nichts haben."

Vehement gegen Aufweichung der Schuldenbremse

Heute habe man den Eindruck, das staatliche Füllhorn sei unerschöpflich geworden. Plötzlich hatte man Geld für Corona, CS etc. "Das weckte den Durst derjenigen, die noch nichts haben." Villiger wehrte sich gegen eine Lockerung der Schuldenbremse. Ein Kleinstaat, der allein im Sturm steht, müsse finanziell überdurchschnittlich solide sein, warb Villiger für eine intakte Schuldenbremse.

Zudem brauche es mehr Mittel für die Landesverteidigung. Die Neutralitätspolitik müsse man nicht aufgeben, die Schweiz müsse diese aber - wie immer schon in der Geschichte - flexibel handhaben.

"Es muss ein Ruck durch die Schweiz gehen"

Die Schweiz brauche heute einen Ruck in der Gesellschaft wie einst in den Dreissigerjahren, als das Friedensabkommen in der Wirtschaft geschlossen wurde. Die Ausgangsposition der Schweiz sei gut, "aber wir müssen es halt wollen". Dafür gab es langanhaltenden Applaus.

Gekonnt moderiert wurde der Grossanlass von der TV-Moderatorin Katharina Locher, musikalisch untermalt - und heftig beklatscht - von Anna Rossinelli und ihrer Band.