SVP und FDP versenken Rettungsplan der Mitte für die integrative Schule

SVP und FDP versenken  Rettungsplan der Mitte für die integrative Schule
Blick in den Grossen Rat, links die SVP-Fraktion. Foto: MKU

Mit einem Postulat wollte die Fraktion Die Mitte (Sprecher Jürg Baur, Brugg) den Regierungsrat einladen, konkrete Massnahmen zu prüfen, welche das Gelingen der integrativen Schulform mit einem Mehrwert sicherstellen.

Die integrative Schulform sei im Kanton Aargau politisch stark unter Druck, schreibt Die Mitte dazu. Das Ziel, die Vielfalt der Schülerschaft zu respektieren und jedem Kind die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen, sei unbestritten. Darüber, wie dies erreicht werden kann, scheiden sich jedoch die Geister.

Der Aargau hat sich für die integrative Schulform entschieden und die Gemeinden haben diese mit viel Aufwand umgesetzt. Der eingeschlagene Weg sollte deshalb weiterverfolgt und optimiert werden, ist für Die Mitte klar. Um ein solches Bildungssystem erfolgreich zu realisieren und dabei allen Schülerinnen und Schülern (SuS) individuelle Lernfortschritte zu ermöglichen, brauche es bei den Schulen vor Ort nebst ausreichenden Ressourcen eine hohe Professionalität aller Fachkräfte und eine Schule mit einer gestärkten Haltung in Bezug auf die gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Bedürfnissen sowie tragfähige Kooperationen aller Beteiligten.

"Bessere Schulleistungen als vergleichbare Kinder und Jugendliche in separativen Schulformen"

Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten1 lernen in integrativen Schulformen mehr und zeigen bessere Schulleistungen als vergleichbare Kinder und Jugendliche in separativen Schulformen (Sonderschulen, Sonderschulklassen) (Bless 2017; Matthewes, 2020), schreibt die Fraktion weiter. Dieser Befund werde in zahlreichen Querschnittstudien immer wieder bestätigt (Kocay et al. 2014), in den bisherigen wenigen Längsschnittstudien sind die Effekte für integrative Schulsettings auch eher positiv, allerdings weniger deutlich als in den Querschnittstudien (Lütje-Klose et al., 2018).

Als Grund für bessere Schulleistungen in integrativen Schulformen wird das höhere Erwartungsniveau in integrativen Schulklassen im Vergleich zu Sonderschulen und Sonderschulklassen angenommen (Sahli Lozano, 2022; Pitten Cate & Krischler, 2020). Zudem fänden sich für Kinder mit Lernschwierigkeiten in integrativen Schulformen positive Vorbilder, was häufig in Sonderschulklassen nicht der Fall ist, da alle Kinder und Jugendliche ähnliche Schwierigkeiten aufweisen (Eberwein, 2018).

Separativ geschult: "geringere Chancen am Arbeitsmarkt"

Zudem könne aufgezeigt werden, dass separativ geschulte Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen geringere Chancen auf eine Integration im ersten Arbeitsmarkt und an der Partizipation an der Gesellschaft haben (Eckhart et al., 2011; Riedo, 2000). Dies führt zu gesellschaftlichen Folgekosten.

Ein ausschlaggebender Punkt für eine optimale Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten sind die schulischen Kontextfaktoren, wie die Gestaltung von Beziehungen, die didaktische Orientierung und Gestaltung, die Einstellung der Lehrpersonen, der verhaltenspädagogische Umgang mit schwierigen Situationen, die Professionalität aller Fachkräfte, der Einbezug des familiären Umfeldes und nicht zuletzt die finanziellen Ressourcen.

Die Schaffung einer integrativen, respektvollen und unterstützenden Lernumgebung ist entscheidend, um die Potenziale der Diversität zu nutzen. Der vorhandene Fachkräftemangel, die Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen und die gestiegene Erwartung der Eltern an die Kinder, verschärfen die Herausforderungen an unseren Schulen. Es müsse uns gelingen, dass der Regelunterricht mit den nötigen Unterstützungsmassnahmen und die Klassenlehrpersonen gestärkt werden können.

Mögliche Unterstützungen sind für Die Mitte:

• Schnellere Abklärungen bei Kindern mit Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störungen oder möglichen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen

• Zeitnahe Umsetzung von bereits geforderten Frühfördermassnahmen

• Abbau der Wartelisten für SuS, die aufgrund von Abklärungen in einer Sonderschule gefördert werden müssen

• Prüfung neuer Arbeitsmodelle

• Unterstützung von Lehrpersonen

  • Weiterbildung und Beratung für eine differenzierte Didaktik in (immer) heterogenen Lerngruppen für Lehrpersonen und in geeigneter Form auch für Schulleitungen.
  • Weiterbildung und situative Beratung in verhaltenspädagogischen Ansätzen für die Lehrpersonen und in angepasster Form für Schulleitungen.
  • Schulung der Lehrpersonen und Schulleitungen in der Gesprächsführung mit den Eltern auffälliger Schülerinnen und Schülern.
  • Schaffung temporärer Time-out-Möglichkeiten bei gleichzeitiger Beratung und Intervention in den Herkunftsklasse.
  • • Zurverfügungstellung von entsprechenden und genügenden Ressourcen.

Wir bezeichnen die integrative Schulform nicht als gescheitert, sondern als Schulform, die aufgrund verschiedenster Erfahrungen und Erkenntnissen weiterentwickelt werden muss. Dies soll möglichst zeitnahe mit einer sorgfältigen Planung und einem effizienten Umgang mit den entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen passieren.

SVP und FDP lehnen Vorstoss zur integrativen Schule ab

In der Debatte bestreitet die FDP (Sprecherin Jeanine Glarner) das Postulat allerdings. Das System habe man seit 15 Jahren: "Ein Lieveprojekt an unseren Schülerinnen und Schülern. Wir sehen, was abgeht. Es bringt nicht, einfach weitere Berichte zu schreiben. Lesen Sie doch die Resultate bei den Pisa-Studien. Wir haben ein Problem. Und Sie tun so, als könne man auf diesem Weg weitermachen", ruft sie in den Raum und fordert: "Jetzt muss etwas getan werden!"

Demgegenüber sieht Annetta Schuppisser (GLP) einen akuten Handlungsbedarf. Das Postulat sei notwendig, Abschreibung (wie von der Regierung beantragt) nicht angebracht. Julia Rahel Grieder (Grüne) meldet sich nun als schulische Heilpädagogin. Die Schule habe ein Anrecht auf eine differenziertere Beurteilung, sagt sie. Auch sie ist für das Postulat. Demgegenüber findet Stefan Müller, eine Weiterentwicklung der integrativen Schule bringe nichts. Es brauche eine Regelschule mit Einführungs- und Förderklassen.

Die integrative Schule sei nicht gescheitert, es brauche Verbesserungen, sagt demgegenüber. Man könne aber unmöglich von heute auf morgen alle Verbesserungen umsetzen, sagt jetzt Carole Binder-Meury (SP). Sie will nicht zurück auf Feld 1 wie SVP und FDP.

Die Mitte wehrt sich für den bedrängten Vorstoss

Nun verteidigt Jürg Baur (Die Mitte) den Vorstoss. Er versteht nicht, dass die FDP diesen nicht überweisen will. Der Regierungsrat zeige, dass er sich sehr für die Stärkung der Regelschule und zur Umsetzung des Bildungsauftrags einsetzt. Baur wehrt sich für das Postulat und gegen dessen Abschreibung. Mit Separation könne in der Schule kein Kompetenzaufbau aller Beteiligten aufgebaut werden, argumentiert Baur. Er ruft dazu auf, für das Aargauer Modell offen zu bleiben. Unterstützung gibt es von Uriel Seibert (EVP). Eine Abschaffung der integrativen Schule wäre keinesfalls ein Allheilmittel für Probleme, mahnt er. Er bittet, auf "Schnellschüsse" zu verzichten.

In der Debatte ist es erstaunlich ruhig im Saal, die Saalpräsenz ist sehr hoch. Allen ist bewusst, dass hier eine sehr wichtige Debatte stattfindet, und heute womöglich die Weichen neu gestellt werden, indem ein Vorstoss zur Weiterentwicklung der integrativen Schule angesichts der Mehrheit von SVP/FDP/EDU abgelehnt zu werden droht.

Martina Bircher: gemeinsam die Volksschule stärken

Nun spricht Bildungsdirektorin Martina Bircher: Vieles, was sie sagen wollte, hätten andere schon gesagt, schickt sie voraus. Sie widerspricht Grossrat Harry Lütolf (Mitte) der zuvor SVP und FDP in einer eigentlichen Wutrede attackiert und Kleinklassen als "Mist" bezeichnet hatte. "Wo sind wir eigentlich?", fragt Bircher, und versucht die Wogen etwas zu glätten.

Die stattgefundene Debatte zeige, dass es hier einen Glaubenskonflikt gebe. Damit sei niemandem gedient. Alle müssten über den Schatten springen, um gemeinsam die Volksschule zu stärken, ruft sie auf. Man solle zielgerichtet schauen, dass jedes Kind zur richtigen zeit in der richtigen Klasse ist, statt einen Glaubenskonflikt zu führen. Es brauche aber nicht nochmal einen Bericht. Jetzt gehe es ans Umsetzen. So will die Regierung den Vorstoss entgegen zu nehmen unter gleichzeitiger Abschreibung.

Rechtsparteien sehen integrative Schule in der Sackgasse

Es wird abgestimmt: Der Rat lehnt das Postulat mit 70 : 63 Stimmen ab. Dies ändert nichts an der heutigen integrativen Schule, es wurde ja "nur" ein postulat zugunsten der integrativen Schule abgelehnt. Dis sehr grundsätzlichen und weit auseinanderdriftenden Statements von beiden Seiten und das Resultat zeigen aber, dass SVP/EDU und FDP, die im aktuellen Kantonsparlament eine Mehrheit haben und diese auch einzusetzen gewillt sind (was sie schon am Morgen beim KKW-Vorstoss der SVP demonstriert haben), die integrative Schule in einer Sackgasse sehen und deren Tage im Aargau gezählt scheinen.

Nun beendet Grossratspräsident Markus Gabriel die Grossratsdebatte, da die Zeit für das letzte Geschäft des Tages, der Antrag der SVP für eine Standesinitiative für ein Ständemehr bei den "Bilateralen III", zu knapp ist.

Die nächste Grossrats-Sitzung ist am 17. Juni. Wir verabschieden uns für heute und würden uns freuen, wenn Sie am 17. Juni ab 10 Uhr wieder hier vorbeilesen würden.

Einen schönen Abend!