Flüchtlingsparlament im intensiven Dialog mit Landammann Dieter Egli
Der erste von vier Dialogabenden des Aargauer Flüchtlingsparlaments mit Politik und Verwaltung begann am 22. September im Rathaus Aarau mit Landammann Dieter Egli. Unter dem Motto «Partizipation und Dialog statt Sündenbock-Politik» diskutierten 22 Aargauer Geflüchtete acht in Kommissionen erarbeitete Vorschläge mit Dieter Egli, diesmal in einer völlig neuen Dialogstruktur. Dies teilt der Verein Netzwerk Asyl mit.
Im Zentrum standen demnach die Stimmen der Geflüchteten selbst: ihre Sichtweisen, Anliegen und konkreten Lösungsvorschläge für eine faire, menschliche und nachhaltige Asyl- und Integrationspolitik im Kanton Aargau. Alle Anwesenden empfanden den Austausch laut Mitteilung als fruchtbar. Landammann Egli ermutigte die Geflüchteten, den Dialog auch mit anderen Entscheidungsträger:innen auf kommunaler und kantonaler Ebene fortzusetzen, da Veränderungen Zeit und Sensibilisierung erfordern.
Einige Ergebnisse des Dialogs:
Zwei Mütter schilderten ihre Schwierigkeiten, eine Ausbildung in der Schweiz zu absolvieren, da die Kinderbetreuung je nach Gemeinde nicht finanziert wird und meist nur der Vater bei der Arbeitsintegration gefördert wird. Die Kommission Bildung verwies auf Programme wie Mütter in Ausbildung (MIA) oder AMIE-F in anderen Kantonen, die gezielt in Mütter investieren, sodass diese nach einer Ausbildung selbstständig werden. Eine der Mütter musste zehn Jahre auf eine Weiterbildung warten, ein Verlust für sie, ihre Familie und die Schweiz. Dieter Egli betonte, dass ein Umdenken notwendig sei, um Geflüchtete als Ressource im Hinblick auf den bekannten Fachkräftemangel zu sehen. Das Parlament müsse jedoch noch überzeugt werden.
Die Kommission stellte zudem Fragen zur Höhe von Ausbildungsstipendien für geflüchtete Eltern, deren ausländische Abschlüsse (z.B: als Jurist:in) in der Schweiz nicht anerkannt werden. Dieter Egli fragte sich, inwiefern diese spezifische Situation bei der Entwicklung der Stipendien berücksichtigt wurde. Betroffene hoffen auf eine zunehmende Umsetzung der im Reglement vorgesehenen Erhöhung pro Kind.
Umsetzungsprobleme mit Bezahlkarte
Die Kommission Menschen in Not griff den jüngst vom Parlament beschlossenen Einsatz von «Bezahlkarten» ohne Bargeldzugang auf und wies auf zahlreiche Umsetzungsprobleme hin: eingeschränkte Mobilität, fehlendes Taschengeld für Kinder, notwendige Barzahlungen bei Schulanlässen, auf Flohmärkten oder für Berry-Pflücken. Auch beim Kauf günstiger Gebrauchtwaren via Twint sei online Gebrauchbarkeit unverzichtbar. Dieter Egli erklärte, die Regierung habe gehofft, das Parlament würde Zeit für eine Analyse dieser Schwierigkeiten einräumen. Nun werde nach einer praktikablen Lösung gesucht.
Diese Kommission fragte auch, ob ausreisepflichtige Kinder Zugang zu Spielgruppen und Jugendliche Zugang zu Berufslehren erhalten können, wie es nationale Empfehlungen zu Kinderrechten und andere Kantone vorsehen. Herr Egli betonte, dass Spielgruppen im Jahr vor dem Schuleintritt sowie der Abschluss begonnener Lehren möglich sein sollten. Das Flüchtlingsparlament fordert jedoch den Ausbau solcher kinderrechtskonformen Massnahmen, damit Kinder nicht aufgrund des Status ihrer Eltern in ihrer Entwicklung benachteiligt werden.
Die Kommission F- und S-Status thematisierte die prekären Bedingungen in der Temporärarbeit, die keine nachhaltige Selbstständigkeit ermögliche. Herr Egli würdigte einerseits die Leistungen dieser Branche, zeigte aber auch Verständnis, dass vollständige Integration weitergehende Schritte erfordert. Diese Fragestellung sei für ihn neu gewesen, er dankte für die Information.
Bedarf an ruhigen Lernplätzen
in weiteres Thema war laut Mitteilung der Bedarf an ruhigen Lernplätzen für Jugendliche in Kollektivunterkünften. Wer sich ein Zimmer mit mehreren Personen teilt, darunter auch unbeschäftigte Jugendliche, hat Mühe, einen Lehrabbruch zu vermeiden. Landammann Egli erkannte den Bedarf an und erklärte, dass die Suche nach geeigneten Unterkünften für das Asylwesen grosse Herausforderungen mit sich bringe.
Die neu gegründete Kommission Beeinträchtigung wies darauf hin, dass Geflüchtete mit Behinderungen und deren Familien mit Pflegeverantwortung stärker berücksichtigt werden müssen. Herr Egli verwies auf kantonale Bemühungen, etwa Deutschkurse auch für Seh- oder Hörbeeinträchtigte zugänglich zu machen. Solche Massnahmen seien anspruchsvoll, doch versuche der Kanton, seine begrenzten Ressourcen auch hier wirksam einzusetzen.
Die weiteren Dialogabende finden jeweils um 18.30 Uhr im Rathaus Aarau statt: am 16. Oktober, 5. und 12. November 2025 mit Vertreter:innen der Verwaltung am 5.11. sowie Mitgliedern des Grossen Rates mehrerer Parteien am 16.10. und 12.11.. Ziel ist laut Mitteilung "ein ehrlicher Dialog auf Augenhöhe über bestehende Herausforderungen, aber auch über konkrete Chancen zur Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen+.
Erste Erfolge und offene Baustellen
Bereits in den vergangenen drei Jahren konnten durch das Flüchtlingsparlament konkrete Verbesserungen erreicht werden:
- Erhöhung der Altersgrenze für Arbeitsintegrationsprogramme «INVOL» auf 40 Jahre
- Ausbau der psychologischen Betreuung
- Verbesserter Zugang zur Integration für geflüchtete Mütter
- Infoveranstaltungen zur Arbeitsintegration für ukrainische Geflüchtete
Nicht alle Anliegen fanden jedoch Gehör: Ein Vorstoss für Ausbildungsstipendien für vorläufig Aufgenommene wurde vom Grossen Rat abgelehnt, "trotz klarer Vorteile für Integration und Selbstständigkeit", wie es dazu in der Mitteilung weiter heisst.
Geflüchtete mit Beeinträchtigungen: Eine übersehene Gruppe. Zum zweiten Mal widmete sich eine Kommission gezielt der Situation geflüchteter Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Bilanz sei alarmierend: massive Informationslücken, kaum barrierefreie Angebote und unzureichende Unterstützung prägen den Alltag vieler Betroffener. Das Flüchtlingsparlament fordert, diese Gruppe künftig systematisch zu berücksichtigen und inklusiv zu denken.
Ein Projekt von Geflüchteten für Geflüchtete: Die 4. kantonale Flüchtlingssession Aargau ist ein Projekt von NCBI Schweiz in Zusammenarbeit mit dem Verein Netzwerk Asyl Aargau «VNAA». Es wird unterstützt vom Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau sowie weiteren Partnerorganisationen.